Winterwanderung Rondane
Dies ist der Reisebericht einer Wanderung und ihrer Umstände im
vereisten Norwegen. Zuerst war geplant, diesen Artikel in einer
Zeitschrift zu veröffentlichen. Dafür wurde dem Beitrag noch ein wenig
hinzugefügt, um ihn nicht gar so bitterernst wirken zu lassen. Ich wünsche ein
frostiges Vergnügen bei der Lektüre und freue mich auf Kommentare und
Kritik.
Claus Scherschel
EISZEIT
Spätestens da wissen wir, daß es kalt werden wird: kurz vor unserem Ziel
bleiben wir endgültig liegen. Der Vergaser ist ein einziger grauenhafter
Eisklumpen und der Warmluftschlauch ein Fetzen, den nicht mal der
Heilige St.Martin losgeworden wäre.
Mit Wiederanschieben ist natürlich nichts, wir selbst können auf dem
vereisten Parkplatz kaum laufen. Es gelingt uns, den Golf aus der
Parkplatzeinflugschneise der norwegischen Autofahrer zu manövrieren und
danach stellen wir unser Zelt in den Schutz des Autos.
Am nächsten Morgen flicken wir den kaputten Vorwärmschlauch und erbitten
von einem LKW-Fahrer Anschlepphilfe. Beim ersten Versuch reißt das Seil
und außerdem stellt sich der Parkplatz als für dieses Manöver zu kurz
heraus.
Mit stark verkürztem Seil probieren wir einen neuen Anlauf, wobei der
LKW-Fahrer zu unserem Entsetzen auf die vereiste Autobahn einschert.
Dort rast er, uns mit drei Meter Seil im Schlepp den Berg hinunter. Zu
allem Überfluß ist die Windschutzscheibe unseres Wagen von innen wie von
außen zugefroren, so daß sich Peter am Lenkrad aus dem Seitenfenster
lehnen muß, um überhaupt etwas zu sehen. Ich sitze stumm daneben und
beschließe, doch wieder fromm zu werden.
Vierter Gang - nichts. Dritter Gang - nichts. Erst bei achtzig
Stundenkilometern springt der Motor im dritten Gang an. Peter gibt
Lichtzeichen, worauf der LKW bremst. Peter gelingt es, nicht dichter als
ein Angström aufzufahren. Wir sind uns darüber im klaren, daß noch zwei
oder drei solcher Aktionen den Motortot bedeuten.
Wir rollen also in Lillehammer ein, wo wir das Auto wohlweislich gleich
hangabwärts parken. Nach ein paar Kaffee und einigen Einkäufen machen
wir uns wieder auf den Weg nach Rondane.
Es ist bereits Nacht als Peter und ich die Rucksäcke aufgeladen haben
und endlich die ersten Schritte vom Auto weg in den Wald machen. Es ist
der 28. Dezember 1995 - einen Tag später als geplant, aber wenn schon
der fahrbare Untersatz anfängt, dicke Striche durch Rechnungen zu
machen, wozu soll man dann überhaupt großartig Wert auf Zeitpläne legen?
Hier in Norden gehen die Uhren sowieso langsamer und bei solch
arktischen Temperaturen friert auch die Zeit ein.
Der Halbmond wirft genügend Licht herab um verschwommene Schatten in den
Schnee zu zeichnen. Wir verzichten auf die Stirnlampen und tasten uns in
der eisflirrenden Luft durch den Wald.
Etwas zu großzügig haben wir unsere Tagesetappe gesteckt, denn schon am
ersten Hügel stellen wir fest, daß Bäche sich nicht zwangsläufig an
irgendwelche Rinnen und Furchen halten, um darin zu fließen, sondern
auch schon mal großflächig einen Hang herabsickern. Bei -20 Grad
fließt da natürlich nichts mehr, dafür haben wir es jetzt mit
sechzig-Grad-Eisflächen zu tun, aus denen hier und da Bäume und
Grasbüchel herauswachsen. Das unter dem bißchen Schnee, das hier liegt,
wirklich überall Eis ist, stellen wir fest, als ich nach einem ganz
normalen Schritt zehn Meter hangabwärts zum Liegen komme. Und die
Steigeisen stecken noch tief unten im Rucksack. Wir bewegen uns jetzt
sehr vorsichtig von Grasbüchel zu Grasbüchel und ziehen uns an den
Bäumen den Berg hoch. So kommt man natürlich nur im Schneckentempo
vorwärts. Zeit ist etwas sehr Relatives - bisher wußte aber wohl keiner,
daß sie auch eine Funktion der Temperatur ist.
Als wir endlich diesen vierzig Meter hohen Achttausender bestiegen haben
ist es wirklich spät, weshalb wir beschließen, das nächste Flach
Zeltplatz zu nennen.
Zum Kochen liegen wir noch vor dem Zelt - man muß dann nicht dauernd
raus um Schnee zum Schmelzen zu holen -, danach ist aber die Kälte bis
in die letzte Falte der Bekleidung gekrochen und bevor sie die letzte
Falte in unseren Innereien erreicht, kriechen wir in die Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen, als wir nach dem Frühstück das Zelt verlassen,
taucht zwischen den krüppeligen Birken die Sonne gerade als ein erster,
glutroter Streifen am Horizont auf - und Osten ist ganz woanders, als
ich bis dahin dachte. Vermaledeiter Wald.
Es dämmert sehr schnell, und als wir fertig zum Weitergehen sind, ist es
hell. Der Weg ist einigermaßen gut zu finden: weil nur wenig Schnee
liegt sind die senkrechten Steinplatten mit dem "T" einfach auszumachen.
Viel mehr Probleme bereiten uns da die Eisflächen, auf die man so
unvermittelt tritt. Als uns der Weg wieder bergab führt tröstet uns die
Tatsache, daß man beim Ausrutschen wenigstens in die richtige Richtung
fällt.
Nach der Durchquerung eines weiteren Tales verlassen wir die Baumgrenze
endgültig; jetzt beherrschen Fels, Eis und Schnee die Landschaft.
Entlang eines Flusses steigen wir stetig bergan.
Der gefrorene Fluß verleitet regelrecht dazu, sich das Stolpern über die
Felsen zu schenken und stattdessen auf dem Eis weiterzulaufen. Zunächst
testen wir diese Idee auf ihre Tragfähigkeit und staksen ohne Rucksäcke
aber mit Steigeisen bewehrt über den Fluß. Doch das Eis hat es in sich.
So dick es auch sein mag, wahrscheinlich wegen der enormen
Fließgeschwindigkeit des Wassers bildet es nur einen Eismatsch, mit dem
man wunderschön die Schalenstiefel dekorieren kann, wenn man
hineinplatscht.
So unterwerfen wir uns also wieder der alten Arbeitsteilung: der Fluß
verziert als bläulich-schillernder Eisstrom die Landschaft und wir
Menschen wühlen uns durch sie. Immerhin trägt das Eis an der
entscheidenden Stelle, nämlich da, wo man im Sommer durch den Fluß muß.
Am Nachmittag wird das Wetter schlechter, Wolken ziehen auf und von den
Gipfeln der umliegenden Berge wehen lange Schneefahnen. Der Wind wirbelt
kleine Schneeteufel in unsere Richtung und als wir später das Zelt
aufstellen, fetzt ein ordentlicher Schneesturm das Tal hinab.
Da hat keiner von uns Lust noch vor dem Zelt köchelnd herumzuliegen. Um
das leidige Problem des Schneeholens zu umgehen, schaufele ich eine
Apsis zur Hälfte mit Schnee voll. Auch wenn wir den lieben langen Abend
kaum etwas anderes tun, als Schnee für Wasser zum Trinken und
Kochen zu schmelzen, wir werden das Gefühl nicht los, zu wenig zu
trinken. Und wenn man sich die Informationen auf den Tütenspeisen
durchliest: essen tut man auch nicht genug.
Der nächste Tag beginnt so, wie der letzte endete, dazu kommt ein
dringendes Bedürftnis. Gar nicht so einfach, hier ein windgeschütztes
Plätzchen zu finden. Und das noch um fünf Uhr morgens. Als ich wieder in
den Schlafsack krabbele kann sich Peter einen Kommentar nicht
verkneifen:
"Es gibt ja nur zwei Gründe, warum ein Claus um die Zeit unruhig wird!"
"Ach ja, zwei?"
"Entweder weil die Blase zu klein geworden ist, oder weil ein Eisbär am
Eingang kratzt!"
Gerade bin ich wieder aufgetaut, ist es auch schon Zeit das Tagewerk zu
beginnen. In der Pfanne, die als Deckel auf einem Topf schmelzendem
Schnees liegt, tauen die Brotscheiben und die Marmelade für unser
Frühstück auf - na ja: an. Schon mal Brot gelutscht?
Der Sturm hat nachgelassen und die Sonne flutet die Landschaft mit
diffus-gelblichem Licht. Wir erreichen die Talwasserscheide, von nun an
laufen wir wieder leicht bergab. Der Pfad schlängelt sich durch Unmengen
lose aufeinander liegender Felsen und wenn man nicht gerade über einen
wackligen Stein balanciert, wühlt man sich durch hüfthohe
Schneeverwehungen. Nur selten haben wir das Vergnügen, auf
freigeblasener Erde laufen zu können.
Wir haben einen Abstecher auf den Storonten, den mit 2138m zweithöchsten
Berg Rondanes geplant und so führt uns unser Weg ersteinmal nicht zu den
idyllisch gelegenen Hütten weit unten im Tal. Vielmehr verlassen wir
dieses Tal und steigen auf in ein Hängetal, auf dessen Sohle wir den
nächsten Biwakplatz suchen wollen. Aus diesem Blickwinkel haben die
sonst so runden Berge ein ganz anderes Antlitz: sie sind schroff und
besitzen zweihundert, vielleicht dreihundert Meter hohe, senkrechte
Wände.
Es beginnt zu dunkeln und wir finden gerade kein ebenes Fleckchen freien
Bodens, dafür ist der Schnee durch Wind und Sonne so verbacken, daß die
Harschschicht sogar beim Drüberlaufen nicht bricht. Wir stellen das Zelt
also einfach auf den Schnee.
Den nächsten Morgen beginnen wir um halb sechs. Wegen der aufwendigen
Prozeduren des Frühstückbereitens, Anziehens und Zusammenpackens sind
wir gegen halb acht abmarschbereit. Die Rucksäcke lassen wir an einer
mit einem Wegkreuz markierten Gabelung stehen und stapfen mit leichtem
Gepäck Richtung Gipfel los. Leider scheint das Wetter uns heute nicht
gnädig zu sein: wir stehen inmitten der Wolken. Gerade mal die Hand vor
den Augen kann man noch erkennen. Trotzdem wollen wir nach ganz oben.
Zumindest es versuchen. Wir schleichen von Markierung zu Markierung und
je höher wir uns vorarbeiten, desto lichter wird die Wolkenschicht, die
uns umhüllt. Als wir gerade über den Wolken sind, explodieren die weißen
Berge im furiosen Rot der Morgensonne. Immer mehr Bergspitzen tauchen
aus den Wolken auf je höher wir kommen, und die Sonne entzündet sie in
allen Rot- und Gelbtönen.
Immerwieder bleiben wir stehen auf unserem Weg nach oben, keine Sekunde
des Sonnenaufgangs möchten wir verpassen. Die Wolken haben wir weit
zurückgelassen; sie wabern als weißes Meer tausend Meter unter uns und
die fußlosen Berge sind seine rotgelben Inseln.
Der Gipfel bietet einen atemberaubenden Rundblick. In der arktisch
klaren Luft erkennen wir am Horizont die hohen Berge Jotunheimens. Ein
Düsenklipper zieht eine Kreidespur in den blauen Himmel. Die Menschen in
dem Flieger hoch über uns mögen das gleiche sehen, aber nur wir hier auf
dem Gipfel haben es uns verdient.
Wir verbringen eine gute halbe Stunde hier oben. In der Sonne läßt es
sich zunächst ganz gut aushalten, aber irgendwann will die Kälte doch
tiefer herein - trotz heißen Tees und Schokolade.
Beim Aufstieg durch Fels und verharschten Schnee mutmaßten wir, daß es
runter noch eine ganze Ecke kniffliger werden könnte. Obwohl man auf den
Storonten im Prinzip einfach rauflaufen kann, ist der Anstieg trotzdem
ganz schön steil. Umso überraschter sind wir, als wir beim Abstieg
dennoch gut Tritt fassen können und uns nicht sämtliche Knochen brechen.
Zurück an den Rucksäcken machen wir uns über allerlei gefrorene Snacks
her und schütten gleich heißen Tee aus der zweiten Thermoskanne
hinterher.
Die Wolken, die noch vor sechs Stunden hier festhingen, haben alles Gras
mit einer bizarren Eisschicht umhüllt, in der sich die Strahlen der
Sonne funkelnd brechen. So rauh und ungastlich diese Landschaft sich
gibt: sie ist dennoch hauchzart und zerbrechlich. Die aberhundert
gefrorenen Wasserfälle und Eisströme in den tollkühnsten Farben werden
verschwinden und Rinnsäle und Bäche ihren Platz einnehmen. Das Weiß wird
verschwinden, der Boden auftauen und der übliche Matsch beherrscht dann
wieder die Täler. So unerbittlich rauh der nordische Winter auch sein
mag - die Stimmung der Natur die daraus entsteht, geht zunächst weit
über das hinaus, was ich so eben mal erfassen kann. Dafür werde ich aber
lange, lange davon zehren können.
Die Rucksäcke wieder aufgepackt steigen wir weiter ab ins Tal, bis zu
den Hütten, die wir schon am Vortag ausmachen konnten. Das letzte und
steilste Stück des Abstiegs ist nochmal ganz schön happig: Im Zickzack
folgen wir dem, was wir unter den Schneeverwehungen als Wegverlauf
vermuten. Zudem macht das viele Eis die Sache komplizierter. Hier
empfiehlt sich Herunterrutschen auf dem Hosenboden überhaupt nicht, denn
schnell flöge man über die nächste Kante hinaus, um dann dreißig Meter
weiter unten ins Geröll einzuschlagen. Man dürfte dann in etwa so
aussehen, wie die Felsblöcke, die von hier oben hinabgepoltert sind.
Auf der Suche nach der nächsten Eisplatte stochern wir mit den Stöcken
im Schnee herum, wie ein Neuling beim Kampfmittelräumdienst auf der
Suche nach seiner ersten Miene.
Hier auf der Hütte treffen wir sogar auf Menschen. Ein paar
Telemark-Skifahrer haben es sich im Winterraum gemütlich gemacht.
Praktischerweise halten die Leute im See ein Wasserloch offen. So können
wir unsere Thermoskannen füllen und dadurch Benzin sparen. Beim Befüllen
kippt Peter etwas Wasser an der Kanne herunter. Das sollte später fast
fatale Folgen haben.
Kommt man sommers hier an diesen See - er ist sehr lang gestreckt und
liegt eingekeilt zwischen senkrechten Felswänden - hat man, wenn man in
unserer Richtung weiter will, zwei Möglichkeiten:
Zum einen kann man auf einer Brücke den Fluß kurz nach seinem Ausfluß
aus dem See überqueren, steigt dann am gegenüberliegenden Ufer steil auf
und läuft oberhalb der Felswände parallel zum See. Weit weniger
quälerisch ist die Lösung, mittels Fähre den See hinter sich zu bringen.
Ist das nicht unsportlich?
Im Winter exisiert aber ein Kompromiß, der eigentlich sogar die
Optimallösung darstellt: man läuft einfach übers Eis und kommt an
Stellen, die man sonst überhaupt nicht zu Gesicht kriegt.
Mir ist schon etwas mulmig im Magen, wenn ich so über die zweieinhalb
Kilometer lange und dreihundert Meter breite Eisfläche blicke. Die Sonne
versinkt rasch hinter den Bergen und sofort wird es merklich kälter. Das
Eis beginnt zu arbeiten und entläd die Spannungen mit
Gewehrschuß-ähnlichem Krachen. Bei den ersten Malen plumpst mein Herz
förmlich in die Hose und versteckt sich irgendwo in den Darmschlingen.
Es bedarf einiger Überredungskunst, es wieder nach oben zu bringen.
Irgendwann ist es für den Spurt in den Keller zu müde und ich kann die
phantastische Abendstimmung genießen. Rechts von uns schimmert türkis
ein riesiger gefrorener Wasserfall, dessen Eis am Wandfuß nahtlos in das
des Sees übergeht. Weit vor uns erstrahlt der oberste Zipfel eines
Gipfels im Abendlicht.
Wir erreichen das Ende des Sees und so ganz allmählich fällt die
Dunkelheit über uns herein. Der Mond ist hell genug, daß wir den Weg
finden. Er führt uns durch eine Landschaft, die uns
glauben läßt, das Inlandeis sei erst gestern um die Ecke verschwunden.
Das Tal ist gefüllt mit dem Schutt aus den Gletschern, die diese Gegend
hier geformt haben. Viele Bäche haben sich hier im Laufe der Zeit ihren
Weg gebahnt und zu Zeiten der Schneeschmelze wird der Talboden aufs Neue
umgeformt. Das Vorankommen ist ein stetiges Auf-und-Ab.
Gegen sechs Uhr finden wir ein nettes Plätzchen mit einigermaßen ebenem
Boden. Da es zwischenzeitlich verflucht kalt geworden ist, sind wir erst
gar nicht wählerisch und schlagen unser Lager genau da auf. Es dauert
etwas, bis wir genügend Steine herbeigeschleift haben um das Zelt
abspannen zu können. In dem gefrorenen Boden schlagen wir sogar die
Zeltnägel aus Federstahl krumm. Wie muß es für Außenstehende aussehen:
als winzige Pünktchen in dieser gigantischen Landschaft wuseln wir im
fahlen Mondlicht um unsere armselig spartanische Zuflucht, die uns vor
den Unbilden der Natur schützen soll. Jeder Stein, den wir losschlagen
können und zum Zelt tragen, bringt uns durch die Tätigkeit Wärme und
nicht zuletzt Sicherheit: er hält das Zelt.
Peters Handgelenk-Wetterstation mißt Temperaturen bis minus zwanzig
Grad. Schon vor geraumer Zeit hat sie aufgehört, etwas anzuzeigen.
Die nächste Aufgabe, der wir uns stellen müssen, ist von besonders
delikater Art. Sie gilt dem Aufschrauben der Thermoskannen. Das
übergelaufene Wasser hat die Schraubverschlüsse so vereist, daß wir zu
zweit an den Dingern hängen und mit allen möglichen Tricks versuchen,
das kostbare Naß da wieder rauszukriegen. Eine Flasche läßt sich
irgendwann öffnen und beim Erhitzen dieses Wassers tauen wir den
Verschluß der zweiten gleich mit auf.
Weil heute Sylvester ist und wir so fleißig waren zaubert Peter eine
Packung Nüsse aus den Tiefen des Rucksacks. Hurra!, das wird ein
gemütlicher Abend. Wir lesen im Schein einer Kerze, die auf einem
umgedrehten Becher thront, knabbern Nüsse und süffeln süßen Tee. Um neun
Uhr ist allerdings keiner von uns mehr so richtig unter den Lebenden,
wir kriechen tiefer in die Schlafsäcke und kaum ist die Kapuze
zugezogen, sind wir jenseits von Gut und Böse. Und verschlafen den
Jahreswechsel wie erwartet.
Für uns bringt das nächste Jahr zunächst keine Überraschungen.
Es ist der letzte Tag in dieser Gegend, wir sind auf dem Weg zurück zum
Auto. Aber bis wir dort ankommen, ist es noch sehr weit und ich bin mir
nicht sicher, ob ich überhaupt schon zurück in die Zivilisation will.
Andererseits ist die Aussicht auf eine leckere Tasse heiße Schokolade in
Lillehammer ganz schön verlockend. Soviel Auswahl haben wir aber gar
nicht, denn die Vorräte für diese Tour sind aufgebraucht und die
Notration wollen wir schon wieder mit zurückbringen.
Das Wetter heute ist etwas unsteter als bisher gekannt, nicht schlecht
eigentlich, doch immer wieder weht ein leichter aber ungemein kalter
Wind über das hochliegende Tal und zwingt uns zum zigsten Male, die
Jacke anzuziehen. Dann wieder wird es darunter zu warm, also ausgezogen,
das Ding. Je tiefer wir ins Haupttal absteigen, desto frostiger wird es.
Ein Kältesee hat sich hier breit gemacht und ertränkt jede Bewegung in
eisiger Luft.
Die Sonne ist schon wieder am versinken und noch während die letzten
roten Strahlen die Berge befingern, klettert der Mond über die Gipfel an
den Himmel. Süchtig saugen wir diesen Anblick in uns auf und bannen ihn
ins Gedächtnis. Jeder läßt seinen Gedanken freien Lauf und für einen
Moment sind wir nicht mehr in dieser Welt.
Kurz darauf stehen wir vor dem sehr realistischen Problem, daß wir es
nicht mehr schafften, vor Einbruch der Dunkelheit den Weg durch den Wald
zum Auto gefunden zu haben. Wir haben uns
im Gewirr der Bäume ordentlich verfranzt und vor uns liegt nun der Fluß,
den es zu überqueren gilt. Normalerweise, das heißt, wären wir noch auf
dem Weg, spazierten wir über eine Brücke und alles wäre gar kein Thema.
Eine Brücke ist nicht in Sicht - weder flußaufwärts noch flußabwärts.
Das kann jetzt entweder bedeuten, sie existiert überhaupt nicht mehr,
oder aber, viel wahrscheinlicher, wir müßten die Erkundungsgänge
ausdehnen, um sie zu finden. Aber in welche Richtung?
Das Eis auf dem Fluß sieht nicht sonderlich vertrauenserweckend aus und
darunter gurgelt es auch ganz verdächtig. Die Kälte beginnt unter die
Haut zu kriechen, der Atem gefriert auf der Gesichtsmaske. Die
Alternative zur gewagten Überquerung ist ein weiteres Zeltlager,
angesichts der enormen Kälte dennoch nicht Hauptgegenstand der
Diskussion.
Irgendwann ist uns so kalt, daß wir gar nicht mehr viel Federlesens
machen, die Rucksäcke absetzen und an Reepschnüren hinter uns her über
das Eis ziehen. Das Eis knarzt und knackt, aber es hält. Nochmal möchten
wir da nicht rüber müssen.
Endlich am Auto, ich bin jetzt tatsächlich froh, wieder hier zu sein,
stopfen wir unseren Krimskrams in den Kofferraum. Wie nicht anders zu
vermuten, gibt die Batterie überhaupt nichts mehr her. Es war auch nur
ein pro-forma-Versuch, der Anlasser ist nämlich seit einiger Zeit
hinüber. Anschieben läßt sich der Wagen auch nicht, das Fett in den
Radlagern scheint die Konsistenz von Butter frisch aus dem Kühlschrank
zu besitzen.
Ein erster Versuch, das Auto anzuschleppen gelingt zunächst, leider
brauche ich zu lange um das Seil zu lösen und der Motor ist wieder aus
noch bevor wir überhaupt losgefahren sind. Alle weiteren Versuche
scheitern kläglich, jetzt kann nur noch der Pannendienst Viking helfen.
Über Autotelefon und Osloer Zentrale verständigt, kommt die Hilfe
zweieinhalb Stunden später. Die Wartezeit hatten wir damit verbracht,
möglichst viel anzuziehen, und die Straße auf und ab zu joggen.
Gerade als ich aufgebe und in den Schlafsack krieche, kommt der
Straßendienst. Auch seine
Bemühungen nutzen wenig. Nur müssen wir staunend erfahren, daß nicht der
Anlasser das Zeitliche gesegnet hatte, sondern unlängst die Batterie.
chön und gut, der Motor will trotzdem nicht. Wir winschen den Golf auf
den Anhänger des Pannendienst-Autos, dann steigen wir in den
einigermaßen warmen Geländewagen. Peter nimmt in Ermangelung eines
dritten Sitzes freiwillig auf etwas Undefinierbarem Platz, das gegenüber
dem anderen herumliegenden Krempel den Vorteil besitzt, nicht spitz und
scharfkantig zu sein.
Es stellt sich heraus, daß der Vikinger aus einem Ort hundert Kilometer
entfernt kommt und nicht zuletzt deshalb so lange brauchte, uns zu Hilfe
zu eilen. Er erklärt, wir dürften uns auf eine warme Werkstatt zum
Übernachten freuen.
Mit neunzig Sachen brettert der Norweger über die vereiste Piste. Im
Licht der Scheinwerferbatterie flirrt die Luft. Er tippt ein paar Tasten
unter einem Display: -32° C steht da zu lesen. Kein Wunder, daß die
Scheibe bis auf einen schmalen Sehschlitz dick gefroren ist.
Ach, wie gerne fielen meine Augen zu. Es ist kurz vor zwölf, ich bin
hundemüde und scheine meine Reserven völlig aufgebraucht zu haben. Die
Tatsache, daß wir mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Nacht
sausen hält mich dennoch ganz gut wach.
Als der Golf endlich in der Werkstatt steht und auftauend vor sich hin
tropft, liegen zwei todmüde, unglaublich hungrige und überaus klebrige
Abenteurer auf ihren Isomatten neben ihrer reparaturbedürftigen
Blechkiste, zwischen sich das Objekt der allabendlichen Begierde, den
Kocher. Darauf bruzzeln allerlei leckere Sachen in der Pfanne. Ich
verwende den Rest meiner verbliebenen Konzentration darauf, die Augen
offen zuhalten, um das nächste Stück Fleischwurst zu finden. Die Nacht
ist ziemlich kurz, denn um sechs Uhr früh stehen wir schon wieder auf.
Wir ahnen, daß der Chef der Firma gar nichts davon weiß, daß in seiner
Werkstatt neben mechanischen auch menschliche Wracks herumliegen. Er
gibt sich bei unserer Entdeckung aber so wenig überrascht, daß wir
annehmen müssen, hier werden dauernd irgendwelche Typen mit den
kaputtesten Autos angekarrt. Zweimal Übernachtung und Frühstück für's
Auto bitte!
Die Reparatur geht ruckzuck über die Bühne, es muß nur der Benzinfilter
gewechselt und die Batterie aufgeladen werden. Wir werden uns also in
die nächsten Abenteuer stürzen können. Soviel sei verraten: die meisten
werden sich um einen VW Golf mit leerer Batterie, verlassene Landstraßen
und fünfspurige Autobahnen drehen...
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Claus Scherschel
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