Winterwanderung Rondane


Dies ist der Reisebericht einer Wanderung und ihrer Umstände im vereisten Norwegen. Zuerst war geplant, diesen Artikel in einer Zeitschrift zu veröffentlichen. Dafür wurde dem Beitrag noch ein wenig hinzugefügt, um ihn nicht gar so bitterernst wirken zu lassen. Ich wünsche ein frostiges Vergnügen bei der Lektüre und freue mich auf Kommentare und Kritik. Claus Scherschel

EISZEIT



Spätestens da wissen wir, daß es kalt werden wird: kurz vor unserem Ziel bleiben wir endgültig liegen. Der Vergaser ist ein einziger grauenhafter Eisklumpen und der Warmluftschlauch ein Fetzen, den nicht mal der Heilige St.Martin losgeworden wäre. Mit Wiederanschieben ist natürlich nichts, wir selbst können auf dem vereisten Parkplatz kaum laufen. Es gelingt uns, den Golf aus der Parkplatzeinflugschneise der norwegischen Autofahrer zu manövrieren und danach stellen wir unser Zelt in den Schutz des Autos.

Am nächsten Morgen flicken wir den kaputten Vorwärmschlauch und erbitten von einem LKW-Fahrer Anschlepphilfe. Beim ersten Versuch reißt das Seil und außerdem stellt sich der Parkplatz als für dieses Manöver zu kurz heraus. Mit stark verkürztem Seil probieren wir einen neuen Anlauf, wobei der LKW-Fahrer zu unserem Entsetzen auf die vereiste Autobahn einschert. Dort rast er, uns mit drei Meter Seil im Schlepp den Berg hinunter. Zu allem Überfluß ist die Windschutzscheibe unseres Wagen von innen wie von außen zugefroren, so daß sich Peter am Lenkrad aus dem Seitenfenster lehnen muß, um überhaupt etwas zu sehen. Ich sitze stumm daneben und beschließe, doch wieder fromm zu werden. Vierter Gang - nichts. Dritter Gang - nichts. Erst bei achtzig Stundenkilometern springt der Motor im dritten Gang an. Peter gibt Lichtzeichen, worauf der LKW bremst. Peter gelingt es, nicht dichter als ein Angström aufzufahren. Wir sind uns darüber im klaren, daß noch zwei oder drei solcher Aktionen den Motortot bedeuten. Wir rollen also in Lillehammer ein, wo wir das Auto wohlweislich gleich hangabwärts parken. Nach ein paar Kaffee und einigen Einkäufen machen wir uns wieder auf den Weg nach Rondane.

Es ist bereits Nacht als Peter und ich die Rucksäcke aufgeladen haben und endlich die ersten Schritte vom Auto weg in den Wald machen. Es ist der 28. Dezember 1995 - einen Tag später als geplant, aber wenn schon der fahrbare Untersatz anfängt, dicke Striche durch Rechnungen zu machen, wozu soll man dann überhaupt großartig Wert auf Zeitpläne legen? Hier in Norden gehen die Uhren sowieso langsamer und bei solch arktischen Temperaturen friert auch die Zeit ein.

Der Halbmond wirft genügend Licht herab um verschwommene Schatten in den Schnee zu zeichnen. Wir verzichten auf die Stirnlampen und tasten uns in der eisflirrenden Luft durch den Wald.

Etwas zu großzügig haben wir unsere Tagesetappe gesteckt, denn schon am ersten Hügel stellen wir fest, daß Bäche sich nicht zwangsläufig an irgendwelche Rinnen und Furchen halten, um darin zu fließen, sondern auch schon mal großflächig einen Hang herabsickern. Bei -20 Grad fließt da natürlich nichts mehr, dafür haben wir es jetzt mit sechzig-Grad-Eisflächen zu tun, aus denen hier und da Bäume und Grasbüchel herauswachsen. Das unter dem bißchen Schnee, das hier liegt, wirklich überall Eis ist, stellen wir fest, als ich nach einem ganz normalen Schritt zehn Meter hangabwärts zum Liegen komme. Und die Steigeisen stecken noch tief unten im Rucksack. Wir bewegen uns jetzt sehr vorsichtig von Grasbüchel zu Grasbüchel und ziehen uns an den Bäumen den Berg hoch. So kommt man natürlich nur im Schneckentempo vorwärts. Zeit ist etwas sehr Relatives - bisher wußte aber wohl keiner, daß sie auch eine Funktion der Temperatur ist.

Als wir endlich diesen vierzig Meter hohen Achttausender bestiegen haben ist es wirklich spät, weshalb wir beschließen, das nächste Flach Zeltplatz zu nennen.

Zum Kochen liegen wir noch vor dem Zelt - man muß dann nicht dauernd raus um Schnee zum Schmelzen zu holen -, danach ist aber die Kälte bis in die letzte Falte der Bekleidung gekrochen und bevor sie die letzte Falte in unseren Innereien erreicht, kriechen wir in die Schlafsäcke. Am nächsten Morgen, als wir nach dem Frühstück das Zelt verlassen, taucht zwischen den krüppeligen Birken die Sonne gerade als ein erster, glutroter Streifen am Horizont auf - und Osten ist ganz woanders, als ich bis dahin dachte. Vermaledeiter Wald.

Es dämmert sehr schnell, und als wir fertig zum Weitergehen sind, ist es hell. Der Weg ist einigermaßen gut zu finden: weil nur wenig Schnee liegt sind die senkrechten Steinplatten mit dem "T" einfach auszumachen. Viel mehr Probleme bereiten uns da die Eisflächen, auf die man so unvermittelt tritt. Als uns der Weg wieder bergab führt tröstet uns die Tatsache, daß man beim Ausrutschen wenigstens in die richtige Richtung fällt.

Nach der Durchquerung eines weiteren Tales verlassen wir die Baumgrenze endgültig; jetzt beherrschen Fels, Eis und Schnee die Landschaft. Entlang eines Flusses steigen wir stetig bergan. Der gefrorene Fluß verleitet regelrecht dazu, sich das Stolpern über die Felsen zu schenken und stattdessen auf dem Eis weiterzulaufen. Zunächst testen wir diese Idee auf ihre Tragfähigkeit und staksen ohne Rucksäcke aber mit Steigeisen bewehrt über den Fluß. Doch das Eis hat es in sich. So dick es auch sein mag, wahrscheinlich wegen der enormen Fließgeschwindigkeit des Wassers bildet es nur einen Eismatsch, mit dem man wunderschön die Schalenstiefel dekorieren kann, wenn man hineinplatscht.

So unterwerfen wir uns also wieder der alten Arbeitsteilung: der Fluß verziert als bläulich-schillernder Eisstrom die Landschaft und wir Menschen wühlen uns durch sie. Immerhin trägt das Eis an der entscheidenden Stelle, nämlich da, wo man im Sommer durch den Fluß muß. Am Nachmittag wird das Wetter schlechter, Wolken ziehen auf und von den Gipfeln der umliegenden Berge wehen lange Schneefahnen. Der Wind wirbelt kleine Schneeteufel in unsere Richtung und als wir später das Zelt aufstellen, fetzt ein ordentlicher Schneesturm das Tal hinab.

Da hat keiner von uns Lust noch vor dem Zelt köchelnd herumzuliegen. Um das leidige Problem des Schneeholens zu umgehen, schaufele ich eine Apsis zur Hälfte mit Schnee voll. Auch wenn wir den lieben langen Abend kaum etwas anderes tun, als Schnee für Wasser zum Trinken und Kochen zu schmelzen, wir werden das Gefühl nicht los, zu wenig zu trinken. Und wenn man sich die Informationen auf den Tütenspeisen durchliest: essen tut man auch nicht genug.

Der nächste Tag beginnt so, wie der letzte endete, dazu kommt ein dringendes Bedürftnis. Gar nicht so einfach, hier ein windgeschütztes Plätzchen zu finden. Und das noch um fünf Uhr morgens. Als ich wieder in den Schlafsack krabbele kann sich Peter einen Kommentar nicht verkneifen:
"Es gibt ja nur zwei Gründe, warum ein Claus um die Zeit unruhig wird!" "Ach ja, zwei?"
"Entweder weil die Blase zu klein geworden ist, oder weil ein Eisbär am Eingang kratzt!"
Gerade bin ich wieder aufgetaut, ist es auch schon Zeit das Tagewerk zu beginnen. In der Pfanne, die als Deckel auf einem Topf schmelzendem Schnees liegt, tauen die Brotscheiben und die Marmelade für unser Frühstück auf - na ja: an. Schon mal Brot gelutscht? Der Sturm hat nachgelassen und die Sonne flutet die Landschaft mit diffus-gelblichem Licht. Wir erreichen die Talwasserscheide, von nun an laufen wir wieder leicht bergab. Der Pfad schlängelt sich durch Unmengen lose aufeinander liegender Felsen und wenn man nicht gerade über einen wackligen Stein balanciert, wühlt man sich durch hüfthohe Schneeverwehungen. Nur selten haben wir das Vergnügen, auf freigeblasener Erde laufen zu können.

Wir haben einen Abstecher auf den Storonten, den mit 2138m zweithöchsten Berg Rondanes geplant und so führt uns unser Weg ersteinmal nicht zu den idyllisch gelegenen Hütten weit unten im Tal. Vielmehr verlassen wir dieses Tal und steigen auf in ein Hängetal, auf dessen Sohle wir den nächsten Biwakplatz suchen wollen. Aus diesem Blickwinkel haben die sonst so runden Berge ein ganz anderes Antlitz: sie sind schroff und besitzen zweihundert, vielleicht dreihundert Meter hohe, senkrechte Wände.

Es beginnt zu dunkeln und wir finden gerade kein ebenes Fleckchen freien Bodens, dafür ist der Schnee durch Wind und Sonne so verbacken, daß die Harschschicht sogar beim Drüberlaufen nicht bricht. Wir stellen das Zelt also einfach auf den Schnee.

Den nächsten Morgen beginnen wir um halb sechs. Wegen der aufwendigen Prozeduren des Frühstückbereitens, Anziehens und Zusammenpackens sind wir gegen halb acht abmarschbereit. Die Rucksäcke lassen wir an einer mit einem Wegkreuz markierten Gabelung stehen und stapfen mit leichtem Gepäck Richtung Gipfel los. Leider scheint das Wetter uns heute nicht gnädig zu sein: wir stehen inmitten der Wolken. Gerade mal die Hand vor den Augen kann man noch erkennen. Trotzdem wollen wir nach ganz oben. Zumindest es versuchen. Wir schleichen von Markierung zu Markierung und je höher wir uns vorarbeiten, desto lichter wird die Wolkenschicht, die uns umhüllt. Als wir gerade über den Wolken sind, explodieren die weißen Berge im furiosen Rot der Morgensonne. Immer mehr Bergspitzen tauchen aus den Wolken auf je höher wir kommen, und die Sonne entzündet sie in allen Rot- und Gelbtönen.

Immerwieder bleiben wir stehen auf unserem Weg nach oben, keine Sekunde des Sonnenaufgangs möchten wir verpassen. Die Wolken haben wir weit zurückgelassen; sie wabern als weißes Meer tausend Meter unter uns und die fußlosen Berge sind seine rotgelben Inseln. Der Gipfel bietet einen atemberaubenden Rundblick. In der arktisch klaren Luft erkennen wir am Horizont die hohen Berge Jotunheimens. Ein Düsenklipper zieht eine Kreidespur in den blauen Himmel. Die Menschen in dem Flieger hoch über uns mögen das gleiche sehen, aber nur wir hier auf dem Gipfel haben es uns verdient.

Wir verbringen eine gute halbe Stunde hier oben. In der Sonne läßt es sich zunächst ganz gut aushalten, aber irgendwann will die Kälte doch tiefer herein - trotz heißen Tees und Schokolade. Beim Aufstieg durch Fels und verharschten Schnee mutmaßten wir, daß es runter noch eine ganze Ecke kniffliger werden könnte. Obwohl man auf den Storonten im Prinzip einfach rauflaufen kann, ist der Anstieg trotzdem ganz schön steil. Umso überraschter sind wir, als wir beim Abstieg dennoch gut Tritt fassen können und uns nicht sämtliche Knochen brechen. Zurück an den Rucksäcken machen wir uns über allerlei gefrorene Snacks her und schütten gleich heißen Tee aus der zweiten Thermoskanne hinterher.

Die Wolken, die noch vor sechs Stunden hier festhingen, haben alles Gras mit einer bizarren Eisschicht umhüllt, in der sich die Strahlen der Sonne funkelnd brechen. So rauh und ungastlich diese Landschaft sich gibt: sie ist dennoch hauchzart und zerbrechlich. Die aberhundert gefrorenen Wasserfälle und Eisströme in den tollkühnsten Farben werden verschwinden und Rinnsäle und Bäche ihren Platz einnehmen. Das Weiß wird verschwinden, der Boden auftauen und der übliche Matsch beherrscht dann wieder die Täler. So unerbittlich rauh der nordische Winter auch sein mag - die Stimmung der Natur die daraus entsteht, geht zunächst weit über das hinaus, was ich so eben mal erfassen kann. Dafür werde ich aber lange, lange davon zehren können.

Die Rucksäcke wieder aufgepackt steigen wir weiter ab ins Tal, bis zu den Hütten, die wir schon am Vortag ausmachen konnten. Das letzte und steilste Stück des Abstiegs ist nochmal ganz schön happig: Im Zickzack folgen wir dem, was wir unter den Schneeverwehungen als Wegverlauf vermuten. Zudem macht das viele Eis die Sache komplizierter. Hier empfiehlt sich Herunterrutschen auf dem Hosenboden überhaupt nicht, denn schnell flöge man über die nächste Kante hinaus, um dann dreißig Meter weiter unten ins Geröll einzuschlagen. Man dürfte dann in etwa so aussehen, wie die Felsblöcke, die von hier oben hinabgepoltert sind. Auf der Suche nach der nächsten Eisplatte stochern wir mit den Stöcken im Schnee herum, wie ein Neuling beim Kampfmittelräumdienst auf der Suche nach seiner ersten Miene.

Hier auf der Hütte treffen wir sogar auf Menschen. Ein paar Telemark-Skifahrer haben es sich im Winterraum gemütlich gemacht. Praktischerweise halten die Leute im See ein Wasserloch offen. So können wir unsere Thermoskannen füllen und dadurch Benzin sparen. Beim Befüllen kippt Peter etwas Wasser an der Kanne herunter. Das sollte später fast fatale Folgen haben.

Kommt man sommers hier an diesen See - er ist sehr lang gestreckt und liegt eingekeilt zwischen senkrechten Felswänden - hat man, wenn man in unserer Richtung weiter will, zwei Möglichkeiten: Zum einen kann man auf einer Brücke den Fluß kurz nach seinem Ausfluß aus dem See überqueren, steigt dann am gegenüberliegenden Ufer steil auf und läuft oberhalb der Felswände parallel zum See. Weit weniger quälerisch ist die Lösung, mittels Fähre den See hinter sich zu bringen. Ist das nicht unsportlich?

Im Winter exisiert aber ein Kompromiß, der eigentlich sogar die Optimallösung darstellt: man läuft einfach übers Eis und kommt an Stellen, die man sonst überhaupt nicht zu Gesicht kriegt. Mir ist schon etwas mulmig im Magen, wenn ich so über die zweieinhalb Kilometer lange und dreihundert Meter breite Eisfläche blicke. Die Sonne versinkt rasch hinter den Bergen und sofort wird es merklich kälter. Das Eis beginnt zu arbeiten und entläd die Spannungen mit Gewehrschuß-ähnlichem Krachen. Bei den ersten Malen plumpst mein Herz förmlich in die Hose und versteckt sich irgendwo in den Darmschlingen. Es bedarf einiger Überredungskunst, es wieder nach oben zu bringen. Irgendwann ist es für den Spurt in den Keller zu müde und ich kann die phantastische Abendstimmung genießen. Rechts von uns schimmert türkis ein riesiger gefrorener Wasserfall, dessen Eis am Wandfuß nahtlos in das des Sees übergeht. Weit vor uns erstrahlt der oberste Zipfel eines Gipfels im Abendlicht.

Wir erreichen das Ende des Sees und so ganz allmählich fällt die Dunkelheit über uns herein. Der Mond ist hell genug, daß wir den Weg finden. Er führt uns durch eine Landschaft, die uns glauben läßt, das Inlandeis sei erst gestern um die Ecke verschwunden. Das Tal ist gefüllt mit dem Schutt aus den Gletschern, die diese Gegend hier geformt haben. Viele Bäche haben sich hier im Laufe der Zeit ihren Weg gebahnt und zu Zeiten der Schneeschmelze wird der Talboden aufs Neue umgeformt. Das Vorankommen ist ein stetiges Auf-und-Ab.

Gegen sechs Uhr finden wir ein nettes Plätzchen mit einigermaßen ebenem Boden. Da es zwischenzeitlich verflucht kalt geworden ist, sind wir erst gar nicht wählerisch und schlagen unser Lager genau da auf. Es dauert etwas, bis wir genügend Steine herbeigeschleift haben um das Zelt abspannen zu können. In dem gefrorenen Boden schlagen wir sogar die Zeltnägel aus Federstahl krumm. Wie muß es für Außenstehende aussehen: als winzige Pünktchen in dieser gigantischen Landschaft wuseln wir im fahlen Mondlicht um unsere armselig spartanische Zuflucht, die uns vor den Unbilden der Natur schützen soll. Jeder Stein, den wir losschlagen können und zum Zelt tragen, bringt uns durch die Tätigkeit Wärme und nicht zuletzt Sicherheit: er hält das Zelt.

Peters Handgelenk-Wetterstation mißt Temperaturen bis minus zwanzig Grad. Schon vor geraumer Zeit hat sie aufgehört, etwas anzuzeigen. Die nächste Aufgabe, der wir uns stellen müssen, ist von besonders delikater Art. Sie gilt dem Aufschrauben der Thermoskannen. Das übergelaufene Wasser hat die Schraubverschlüsse so vereist, daß wir zu zweit an den Dingern hängen und mit allen möglichen Tricks versuchen, das kostbare Naß da wieder rauszukriegen. Eine Flasche läßt sich irgendwann öffnen und beim Erhitzen dieses Wassers tauen wir den Verschluß der zweiten gleich mit auf.

Weil heute Sylvester ist und wir so fleißig waren zaubert Peter eine Packung Nüsse aus den Tiefen des Rucksacks. Hurra!, das wird ein gemütlicher Abend. Wir lesen im Schein einer Kerze, die auf einem umgedrehten Becher thront, knabbern Nüsse und süffeln süßen Tee. Um neun Uhr ist allerdings keiner von uns mehr so richtig unter den Lebenden, wir kriechen tiefer in die Schlafsäcke und kaum ist die Kapuze zugezogen, sind wir jenseits von Gut und Böse. Und verschlafen den Jahreswechsel wie erwartet.

Für uns bringt das nächste Jahr zunächst keine Überraschungen. Es ist der letzte Tag in dieser Gegend, wir sind auf dem Weg zurück zum Auto. Aber bis wir dort ankommen, ist es noch sehr weit und ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt schon zurück in die Zivilisation will. Andererseits ist die Aussicht auf eine leckere Tasse heiße Schokolade in Lillehammer ganz schön verlockend. Soviel Auswahl haben wir aber gar nicht, denn die Vorräte für diese Tour sind aufgebraucht und die Notration wollen wir schon wieder mit zurückbringen. Das Wetter heute ist etwas unsteter als bisher gekannt, nicht schlecht eigentlich, doch immer wieder weht ein leichter aber ungemein kalter Wind über das hochliegende Tal und zwingt uns zum zigsten Male, die Jacke anzuziehen. Dann wieder wird es darunter zu warm, also ausgezogen, das Ding. Je tiefer wir ins Haupttal absteigen, desto frostiger wird es. Ein Kältesee hat sich hier breit gemacht und ertränkt jede Bewegung in eisiger Luft.

Die Sonne ist schon wieder am versinken und noch während die letzten roten Strahlen die Berge befingern, klettert der Mond über die Gipfel an den Himmel. Süchtig saugen wir diesen Anblick in uns auf und bannen ihn ins Gedächtnis. Jeder läßt seinen Gedanken freien Lauf und für einen Moment sind wir nicht mehr in dieser Welt.

Kurz darauf stehen wir vor dem sehr realistischen Problem, daß wir es nicht mehr schafften, vor Einbruch der Dunkelheit den Weg durch den Wald zum Auto gefunden zu haben. Wir haben uns im Gewirr der Bäume ordentlich verfranzt und vor uns liegt nun der Fluß, den es zu überqueren gilt. Normalerweise, das heißt, wären wir noch auf dem Weg, spazierten wir über eine Brücke und alles wäre gar kein Thema. Eine Brücke ist nicht in Sicht - weder flußaufwärts noch flußabwärts. Das kann jetzt entweder bedeuten, sie existiert überhaupt nicht mehr, oder aber, viel wahrscheinlicher, wir müßten die Erkundungsgänge ausdehnen, um sie zu finden. Aber in welche Richtung? Das Eis auf dem Fluß sieht nicht sonderlich vertrauenserweckend aus und darunter gurgelt es auch ganz verdächtig. Die Kälte beginnt unter die Haut zu kriechen, der Atem gefriert auf der Gesichtsmaske. Die Alternative zur gewagten Überquerung ist ein weiteres Zeltlager, angesichts der enormen Kälte dennoch nicht Hauptgegenstand der Diskussion.

Irgendwann ist uns so kalt, daß wir gar nicht mehr viel Federlesens machen, die Rucksäcke absetzen und an Reepschnüren hinter uns her über das Eis ziehen. Das Eis knarzt und knackt, aber es hält. Nochmal möchten wir da nicht rüber müssen.

Endlich am Auto, ich bin jetzt tatsächlich froh, wieder hier zu sein, stopfen wir unseren Krimskrams in den Kofferraum. Wie nicht anders zu vermuten, gibt die Batterie überhaupt nichts mehr her. Es war auch nur ein pro-forma-Versuch, der Anlasser ist nämlich seit einiger Zeit hinüber. Anschieben läßt sich der Wagen auch nicht, das Fett in den Radlagern scheint die Konsistenz von Butter frisch aus dem Kühlschrank zu besitzen.

Ein erster Versuch, das Auto anzuschleppen gelingt zunächst, leider brauche ich zu lange um das Seil zu lösen und der Motor ist wieder aus noch bevor wir überhaupt losgefahren sind. Alle weiteren Versuche scheitern kläglich, jetzt kann nur noch der Pannendienst Viking helfen. Über Autotelefon und Osloer Zentrale verständigt, kommt die Hilfe zweieinhalb Stunden später. Die Wartezeit hatten wir damit verbracht, möglichst viel anzuziehen, und die Straße auf und ab zu joggen. Gerade als ich aufgebe und in den Schlafsack krieche, kommt der Straßendienst. Auch seine Bemühungen nutzen wenig. Nur müssen wir staunend erfahren, daß nicht der Anlasser das Zeitliche gesegnet hatte, sondern unlängst die Batterie. chön und gut, der Motor will trotzdem nicht. Wir winschen den Golf auf den Anhänger des Pannendienst-Autos, dann steigen wir in den einigermaßen warmen Geländewagen. Peter nimmt in Ermangelung eines dritten Sitzes freiwillig auf etwas Undefinierbarem Platz, das gegenüber dem anderen herumliegenden Krempel den Vorteil besitzt, nicht spitz und scharfkantig zu sein.

Es stellt sich heraus, daß der Vikinger aus einem Ort hundert Kilometer entfernt kommt und nicht zuletzt deshalb so lange brauchte, uns zu Hilfe zu eilen. Er erklärt, wir dürften uns auf eine warme Werkstatt zum Übernachten freuen.

Mit neunzig Sachen brettert der Norweger über die vereiste Piste. Im Licht der Scheinwerferbatterie flirrt die Luft. Er tippt ein paar Tasten unter einem Display: -32° C steht da zu lesen. Kein Wunder, daß die Scheibe bis auf einen schmalen Sehschlitz dick gefroren ist. Ach, wie gerne fielen meine Augen zu. Es ist kurz vor zwölf, ich bin hundemüde und scheine meine Reserven völlig aufgebraucht zu haben. Die Tatsache, daß wir mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Nacht sausen hält mich dennoch ganz gut wach.

Als der Golf endlich in der Werkstatt steht und auftauend vor sich hin tropft, liegen zwei todmüde, unglaublich hungrige und überaus klebrige Abenteurer auf ihren Isomatten neben ihrer reparaturbedürftigen Blechkiste, zwischen sich das Objekt der allabendlichen Begierde, den Kocher. Darauf bruzzeln allerlei leckere Sachen in der Pfanne. Ich verwende den Rest meiner verbliebenen Konzentration darauf, die Augen offen zuhalten, um das nächste Stück Fleischwurst zu finden. Die Nacht ist ziemlich kurz, denn um sechs Uhr früh stehen wir schon wieder auf. Wir ahnen, daß der Chef der Firma gar nichts davon weiß, daß in seiner Werkstatt neben mechanischen auch menschliche Wracks herumliegen. Er gibt sich bei unserer Entdeckung aber so wenig überrascht, daß wir annehmen müssen, hier werden dauernd irgendwelche Typen mit den kaputtesten Autos angekarrt. Zweimal Übernachtung und Frühstück für's Auto bitte!

Die Reparatur geht ruckzuck über die Bühne, es muß nur der Benzinfilter gewechselt und die Batterie aufgeladen werden. Wir werden uns also in die nächsten Abenteuer stürzen können. Soviel sei verraten: die meisten werden sich um einen VW Golf mit leerer Batterie, verlassene Landstraßen und fünfspurige Autobahnen drehen...

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